Ausdruckstanz, auch bekannt als „freier Tanz“, „expressionistischer Tanz“ oder „neuer künstlerischer Tanz“, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Tanzkunst. Diese Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa, insbesondere in Deutschland, entstand, war eine Rebellion gegen die starren Strukturen des klassischen Balletts. Sie stellte die individuelle Ausdrucksstärke und die emotionale Tiefe der Tänzerin oder des Tänzers in den Vordergrund, anstatt sich auf technische Perfektion oder vorgegebene Bewegungsabläufe zu konzentrieren. In Deutschland entwickelte sich der Ausdruckstanz zu einer einflussreichen Kunstform, die nicht nur die Tanzwelt, sondern auch die kulturelle Landschaft nachhaltig prägte. Dieser Artikel beleuchtet die Ursprünge, die Entwicklung, die Schlüsselfiguren und die kulturelle Bedeutung des Ausdruckstanzes in Deutschland und zeigt, wie er die moderne Tanzkunst bis heute beeinflusst.
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Die Wurzeln des Ausdruckstanzes
Gegenbewegung zum klassischen Ballett
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts empfanden viele Künstlerinnen und Künstler das klassische Ballett als eingeschränkt und mechanisch. Die strenge Technik, die Spitzenschuhe und die festgelegten Bewegungsformen des Balletts wurden als künstlich und unnatürlich wahrgenommen. Ausdruckstanz entstand als Antwort auf diese Einschränkungen, mit dem Ziel, den menschlichen Körper wieder als Medium für natürliche, authentische Bewegungen zu nutzen. Diese neue Tanzform betonte die Verbindung von Körper, Geist und Seele und suchte Inspiration in der Natur, in antiken Kulturen und in der individuellen Emotionalität.
Die Wurzeln des Ausdruckstanzes lassen sich auf die Reformbewegungen des späten 19. Jahrhunderts zurückführen, insbesondere auf das Delsarte-System. Der französische Pädagoge François Delsarte untersuchte die Verbindungen zwischen Sprache, Musik und Bewegung und legte damit einen theoretischen Grundstein für die Hinwendung zu natürlichen Bewegungsformen. Seine Ideen inspirierten Tänzerinnen wie Isadora Duncan, die als eine der ersten Pionierinnen des modernen Tanzes gilt. Duncan lehnte die starren Regeln des Balletts ab und ließ sich von antiken griechischen Darstellungen und philosophischen Schriften inspirieren, um einen Tanzstil zu entwickeln, der Freiheit und Ausdruck betonte.
Einflüsse aus der Lebensreformbewegung
Die Lebensreformbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Europa an Bedeutung gewann, spielte ebenfalls eine zentrale Rolle in der Entstehung des Ausdruckstanzes. Diese Bewegung setzte sich für eine Rückkehr zu einem natürlichen, ganzheitlichen Lebensstil ein, der Körper, Geist und Seele in Einklang bringen sollte. In diesem Kontext wurde der Tanz als Mittel zur Selbstbefreiung und zur Wiederentdeckung der natürlichen Bewegung gesehen. Besonders die Künstlerkolonie Monte Verità in der Schweiz wurde zu einem wichtigen Zentrum dieser Ideen. Dort arbeitete Rudolf von Laban, einer der einflussreichsten Theoretiker des Ausdruckstanzes, und entwickelte eine Bewegungslehre, die die Grundlage für viele spätere Entwicklungen legte.
Die Blütezeit des Ausdruckstanzes in Deutschland
Dresden: Das Mekka des Ausdruckstanzes
In den 1920er- und 1930er-Jahren wurde Dresden zum zentralen Ort für die Entwicklung des Ausdruckstanzes in Deutschland. Die Stadt zog Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt an, die bei den führenden Persönlichkeiten dieser Kunstform lernen wollten. Mary Wigman, eine der bekanntesten Protagonistinnen des Ausdruckstanzes, gründete 1920 ihre Tanzschule in Dresden, gefolgt von Gret Palucca, die 1924 ihre eigene Schule eröffnete. Diese Institutionen wurden zu Brutstätten für innovative Choreografien und neue Bewegungsansätze, die die Grenzen des traditionellen Tanzes sprengten.
Mary Wigmans Schule war besonders einflussreich. Sie betonte die Bedeutung der inneren Dynamik und der individuellen Ausdrucksstärke. Ihre Choreografien, wie der berühmte „Hexentanz“ (1926), waren geprägt von kraftvollen, erdverbundenen Bewegungen und einer intensiven emotionalen Tiefe. Wigman sah den Tanz als eine spirituelle Handlung, die über die bloße physische Bewegung hinausging. Ihre Schülerin Hanya Holm trug diese Ideen später nach Amerika, wo sie eine eigene Wigman-Schule gründete und den Ausdruckstanz in den USA verbreitete.
Gret Palucca hingegen entwickelte einen Stil, der sich durch Leichtigkeit und Präzision auszeichnete. Ihre Arbeit kombinierte Elemente des Ausdruckstanzes mit einer klaren, fast architektonischen Struktur, die ihre Choreografien unverwechselbar machte. Paluccas Einfluss reichte weit über Deutschland hinaus, und sie inspirierte Tänzerinnen und Tänzer weltweit.
Schlüsselpersönlichkeiten und ihre Beiträge
Neben Mary Wigman und Gret Palucca gab es zahlreiche andere Persönlichkeiten, die den Ausdruckstanz in Deutschland prägten. Rudolf von Laban war nicht nur ein Tänzer und Choreograf, sondern auch ein Theoretiker, der die Labanotation entwickelte, eine Symbolschrift zur Dokumentation von Bewegungen. Diese Notation ermöglichte es, Tänze präzise aufzuzeichnen und zu analysieren, was einen bedeutenden Fortschritt in der Tanzpädagogik darstellte.
Dore Hoyer war eine weitere zentrale Figur des Ausdruckstanzes. Ihre Solotänze, insbesondere die Serie „Afectos Humanos“, die die menschlichen Leidenschaften thematisierte, zeigten eine tiefgehende emotionale Intensität. Hoyers Arbeit beeinflusste spätere Generationen von Tänzerinnen und Tänzern und wird heute noch von Solistinnen rekonstruiert und aufgeführt.
Die Frauenbewegung spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Ausdruckstanzes. Viele Tänzerinnen, wie Clotilde von Derp, die ab 1910 in München als Pionierin des modernen Tanzes galt, nutzten den Tanz als Mittel zur Selbstermächtigung. Sie brachen mit den traditionellen Geschlechterrollen und schufen Raum für starke, eigenständige künstlerische Persönlichkeiten.
Einfluss auf andere Tanzformen
Der Ausdruckstanz hatte nicht nur in Deutschland, sondern auch international einen tiefgreifenden Einfluss. In den USA entwickelte sich parallel dazu der Modern Dance, angeführt von Persönlichkeiten wie Martha Graham. Graham, die 1957 bei den Berliner Festwochen auftrat, brachte eine systematischere Herangehensweise an den modernen Tanz, indem sie ein Vokabular entwickelte, das mit dem des klassischen Balletts vergleichbar war, jedoch auf Kontraktionen und Entspannungen der Muskulatur basierte. Ihr Auftritt in Deutschland, bei dem sie gemeinsam mit Mary Wigman und Dore Hoyer auf der Bühne stand, markierte einen symbolischen Moment der Verbindung zwischen deutschem Ausdruckstanz und amerikanischem Modern Dance.
Ein weiterer bedeutender Einfluss des Ausdruckstanzes zeigt sich in der Entstehung des japanischen Butoh. Der Tänzer Ōno Kazuo, der in den 1920er-Jahren Vorführungen von Wigman, Kreutzberg und Hoyer gesehen hatte, ließ sich von diesen Inspirationen leiten, um eine neue, avantgardistische Tanzform zu entwickeln, die ebenfalls die emotionale und spirituelle Dimension des Tanzes betonte.
Ausdruckstanz und die politische Landschaft
Ausdruckstanz während des Nationalsozialismus
Die politischen Umwälzungen in Deutschland hatten einen erheblichen Einfluss auf den Ausdruckstanz. Während viele moderne Kunstformen während der nationalsozialistischen Herrschaft als „entartet“ verurteilt wurden, blieb der Ausdruckstanz weitgehend von dieser Verfolgung verschont. Einige Künstlerinnen und Künstler, wie Mary Wigman, stellten ihre Arbeit teilweise in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie, indem sie Tänze schufen, die das „deutsche Wesen“ betonten. Andere, wie Gertrud Bodenwieser und Gertrud Kraus, mussten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft emigrieren und setzten ihre Arbeit in Ländern wie Australien und Palästina fort.
Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin boten eine Bühne für den Ausdruckstanz, bei der Künstler wie Wigman und Palucca ihre Werke einem internationalen Publikum präsentierten. Diese Veranstaltungen zeigten die Popularität des Ausdruckstanzes, aber auch die Komplexität seiner Rolle in einer politisch aufgeladenen Zeit.
Nachkriegszeit und Wiederbelebung
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Ausdruckstanz in Westdeutschland vor Herausforderungen, da er mit einer Ästhetik und einer Zeit assoziiert wurde, von der sich viele distanzieren wollten. Dennoch fanden Tänzer und Choreografen wie Jean Weidt an der Berliner Volksbühne und an der Essener Folkwang-Schule einen Raum, um die Entwicklung des Ausdruckstanzes fortzusetzen. In der DDR hingegen wurde der Ausdruckstanz als antifaschistisches Symbol gefördert, was zu einer gewissen Kontinuität führte.
Die Wiederbelebung des Ausdruckstanzes begann erst in den späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, unter anderem durch Initiativen wie „Tanzplan Deutschland“ (2006–2011) und „Tanzfonds Erbe“ (2011–2017). Diese Programme förderten die Rekonstruktion und Dokumentation von Ausdruckstanz-Werken und trugen dazu bei, das Erbe dieser Kunstform für neue Generationen zugänglich zu machen.
Ausdruckstanz heute
Integration in die moderne Tanzausbildung
Heute ist der Ausdruckstanz ein fester Bestandteil der Tanzausbildung weltweit. Fast jede professionelle Tanzschule bietet Kurse im Modernen Tanz an, die stark vom Ausdruckstanz beeinflusst sind. Junge Tänzerinnen und Tänzer greifen die solistischen Traditionen des Ausdruckstanzes auf, um ihre eigene künstlerische Stimme zu finden. Werke wie Dore Hoyers „Afectos Humanos“ werden regelmäßig rekonstruiert und aufgeführt, was die anhaltende Relevanz dieser Kunstform zeigt.
Einfluss auf zeitgenössische Choreografien
Zeitgenössische Choreografen wie Pina Bausch, William Forsythe und Sasha Waltz haben die Prinzipien des Ausdruckstanzes weiterentwickelt und in das Tanztheater integriert. Pina Bausch, die in den 1970er-Jahren das Tanztheater Wuppertal gründete, revolutionierte die Tanzwelt, indem sie Alltagsbewegungen und theatralische Elemente in ihre Choreografien einfließen ließ. Ihre Arbeit knüpfte direkt an die expressive Kraft des Ausdruckstanzes an, ging jedoch darüber hinaus, indem sie die Grenzen zwischen Tanz, Theater und Performance verwischte.
Ausdruckstanz und Tanztherapie
Ein weiteres Vermächtnis des Ausdruckstanzes liegt in seiner Anwendung in der Tanzpädagogik und Tanztherapie. Die Ideen von Rudolf von Laban, insbesondere seine Betonung der natürlichen Bewegung und der Körperwahrnehmung, haben die Entwicklung der Tanztherapie stark beeinflusst. Heute wird der Ausdruckstanz in therapeutischen Kontexten genutzt, um emotionale und psychologische Prozesse zu unterstützen.
Das Erbe des Ausdruckstanzes
Der Ausdruckstanz ist mehr als nur eine historische Tanzbewegung; er ist ein Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Freiheit, Authentizität und emotionaler Tiefe. In Deutschland entwickelte sich diese Kunstform von einer rebellischen Gegenbewegung zum klassischen Ballett zu einer kulturellen Kraft, die die internationale Tanzlandschaft nachhaltig prägte. Durch die Pionierarbeit von Künstlerinnen wie Mary Wigman, Gret Palucca und Dore Hoyer sowie die theoretischen Grundlagen von Rudolf von Laban wurde der Ausdruckstanz zu einem Symbol für künstlerische Innovation und individuelle Selbstbestimmung.
Heute lebt das Erbe des Ausdruckstanzes in der modernen Tanzausbildung, in zeitgenössischen Choreografien und in der Tanztherapie weiter. Seine Prinzipien der Natürlichkeit, Improvisation und emotionalen Ausdruckskraft inspirieren weiterhin Tänzerinnen und Tänzer weltweit, ihre eigene künstlerische Stimme zu finden. Der Ausdruckstanz bleibt eine Erinnerung daran, dass Kunst nicht nur Technik, sondern vor allem ein Ausdruck des Menschseins ist.