In der schillernden Welt des klassischen Balletts ziehen Primaballerinen und Solisten oft das Rampenlicht auf sich. Doch hinter dem Glanz der Hauptrollen steht eine Gruppe, ohne die keine Aufführung denkbar wäre: das Corps de ballet. Es ist die tragende Säule jeder klassischen Produktion, das Rückgrat einer jeden Ballettkompanie und das pulsierende Herz kollektiver Bühnenkunst. In diesem Artikel beleuchten wir ausführlich die Geschichte, Bedeutung, Funktionen und künstlerische Kraft des Corps de ballet – und würdigen dabei die immense Rolle dieser Tänzerinnen und Tänzer, die oft unsichtbar bleiben, aber die Magie auf der Bühne überhaupt erst möglich machen.
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Was ist das Corps de ballet?
Das Wort „Corps de ballet“ stammt aus dem Französischen und bedeutet wörtlich „Körper des Balletts“. Gemeint ist die Gruppe von Tänzer:innen eines Ensembles, die nicht zu den Solisten oder Hauptdarstellern zählen. Sie tanzen stets in Gruppenformation und vereinen sich zu beweglichen Ornamenten, Bildern und Mustern auf der Bühne – ob als Schwäne in „Schwanensee“, Blumen im „Nussknacker“ oder Dorfbewohner in „Giselle“.
Das Corps de ballet ist jedoch weit mehr als nur „Hintergrund“: Es schafft Atmosphäre, erzählt Geschichten mit und baut die emotionale wie dramaturgische Kulisse für die Handlung auf.
Die Geschichte des Corps de ballet
Entstehung im höfischen Tanz
Die Wurzeln des klassischen Balletts liegen im Italien und Frankreich des 15. und 16. Jahrhunderts. Schon bei den prunkvollen Festaufführungen der Renaissance tanzten große Gruppen adliger Damen und Herren Formationen und begleiteten die Protagonisten. Mit der Verlagerung des Balletts an den französischen Hof und der Etablierung des „Ballet de cour“ bei Festen nahm die Gruppenchoreografie an Bedeutung zu. Unter König Ludwig XIV. bildete sich am Hof das strukturierte System von Hauptrollen, Solisten und Ensembles heraus.
Entwicklung zur künstlerisch-aktiven Gruppe
Im 19. Jahrhundert schuf Marius Petipa für die russischen Ballettcompagnien ein neues Verständnis des Corps de ballet: Es wurde nicht mehr als bloßer Hintergrund genutzt, sondern zu einer aktiven, dramaturgisch gestaltenden Einheit geformt. Choreographen wie Charles Didelot forderten sogar, dass das Corps eigene dramaturgische Rollen übernimmt, die Stimmung trägt und so zum eigenständigen künstlerischen Bestandteil wird.
Durch diese Entwicklung entstand die heute typische, poetisch-dramatische Funktion des Corps de ballet – als „Kollektivdarsteller“, dessen synchronisiertes Bewegen und gemeinsames Atmen das Publikum tief emotional berührt.
Struktur und Hierarchie im Ballett
Die Company: Von der Spitze bis zur Basis
Eine klassische Ballettkompanie gliedert sich traditionell in folgende Hierarchiestufen:
- Principal Dancers: Die Stars, meist Hauptfiguren mit herausragender Technik und Ausstrahlung
- Soloists: Tänzer:innen, die meist kleinere solistische Rollen tanzen dürfen
- Corps de ballet: Die größte Gruppe in der Kompanie – das Rückgrat jeder Inszenierung
Zusätzlich kann es Zwischenstufen wie den „Demi-soloist“ oder den „Coryphée“ geben – eine Art Anführer:in innerhalb des Corps.
Karrierewege im Corps de ballet
Für junge Tänzer:innen ist das Corps de ballet meist die Eingangspforte zur professionellen Bühne. Hier sammeln sie Erfahrung, entwickeln Technik, trainieren die Präzision der Gruppenarbeit und haben die Möglichkeit, sich für höhere Ränge zu empfehlen. Es ist ein Lernfeld von unschätzbarer Bedeutung, in dem Teamwork, Disziplin und künstlerische Integrität gefordert werden.
Aufgaben und künstlerische Funktionen
1. Geschichtenerzähler:innen und Atmosphäre-Schöpfer
Das Corps de ballet bringt das Publikum mit kollektiven Bewegungen in die zauberhafte Welt des Balletts. Durch Formationen, Posen und Synchronicität schaffen sie die Stimmung jeder Szene – ob als geheimnisvolle Willis in „Giselle“, trauernde Dorfbewohner in „Romeo und Julia“ oder als majestätische Schwäne. Ihre uniforme Eleganz und ihr gemeinsamer Ausdruck verleihen den großen Werken ikonische Bilder, die tief ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind.
2. Dramaturgische Supportstruktur
Die Solist:innen können in emotionalen Höhepunkten auf die emotionale und räumliche Kulisse des Corps bauen. Oftmals agiert das Corps wie ein Schatten der Hauptfiguren, spiegelt Gefühle und Akzente wider oder hebt diese durch Kontraste hervor. So entsteht auf der Bühne ein dichtes Netz dramaturgischer Beziehungen.
3. Synchronicität und Körpersprache
Die volle Wirkung des Corps entfaltet sich durch exakte Synchronität. Bewegungen müssen auf den Bruchteil einer Sekunde abgestimmt sein – jede Kopfneigung, jede Armlinie, jeder Blick zählt. Die technische Herausforderung ist enorm: Minimalste Abweichungen zerstören die Illusion der Einheit und Harmonie. Die Tänzer:innen entwickeln dabei fast übermenschliche Sensibilität für die Bewegungen ihrer Kolleg:innen, nutzen peripheres Sehen und fühlen den gemeinsamen Rhythmus.
4. Künstlerische Herausforderung
Das Corps ist keineswegs ein „ruhiges Fahrwasser“. Die Position verlangt außerordentliche Disziplin, eiserne Ausdauer und perfekte Technik – gepaart mit Teamfähigkeit und der Fähigkeit, sich als Individuum in einer Gruppe aufzulösen. Die körperlichen Belastungen sind beträchtlich: Oft wird in schnellen Wechseln zwischen mehreren Rollen geprobt, und das tägliche Aufführungspensum fordert Kraft, Konzentration und mentale Stärke.
5. Mentoring und Gruppengefühl
Innerhalb des Corps gilt ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. Erfahrenere Tänzer:innen geben ihr Wissen und ihre Tricks an Jüngere weiter. Dieses Miteinander trägt dazu bei, ein Gefühl von Zusammenhalt und Vertrauen zu schaffen, das wiederum auf der Bühne sichtbar wird.
Wichtige Werke und Beispiele
„Schwanensee“
Im zweiten Akt von „Schwanensee“ bildet das Corps de ballet der Schwäne das berühmte, hypnotisch gleichförmige Bild – ein Symbol für Perfektion, Harmonie und stille Melancholie.
„Giselle“
Die Willis, als gespenstische Wasserwesen inszeniert, bewegen sich im Corps wie ein einziger Körper. Sie sind mehr als Kulisse – sie sind die treibende Kraft der Szene.
„Der Nussknacker“
Im „Waltz of the Flowers“ oder beim Schneeflocken-Tanz zeigt sich die Schönheit der Formationstanzes. Komplexe Muster entstehen im Raum und lassen die Bühne magisch lebendig werden.
Die Bedeutung für den Gesamteindruck
Ohne das Corps de ballet wäre jedes große Ballett unvollständig. Sie schaffen die Illusion ganzer Welten, liefern die Energie, die Dynamik und die emotionale Dichte, die das Publikum berührt und in fantastische Sphären entführt. Gesanglos erzählen sie Geschichten und sorgen dafür, dass große Gesten ebenso wie leise Momente ihre Bühne finden.
Herausforderungen und Anforderungen an das Corps de ballet
Körperliche Belastung
Die körperlichen Ansprüche sind enorm. Anders als oft angenommen, ist die Belastung im Corps keineswegs geringer als in Solorollen. Stundenlange Proben, physische Dauerbelastung, ständiger Wechsel von Choreografien und die Notwendigkeit permanenter Synchronität verlangen eiserne Disziplin und Ausdauer.
Mentale Herausforderungen
Künstler:innen im Corps müssen lernen, ihre Individualität zugunsten des Gesamtbilds zurückzustellen. Gleichzeitig ist ein hohes Maß an Eigenmotivation notwendig, um auch in scheinbar „kleineren“ Rollen künstlerische Erfüllung zu finden. Die Identifikation mit der Gruppe wird zur Quelle der Inspiration und Stärke.
Entwicklungsmöglichkeiten
Viele Solotänzer:innen entstammen dem Corps de ballet. Die Jahre in dieser Gruppe bieten die Chance, Fähigkeiten zu perfektionieren und sich schließlich für eine Solistenkarriere zu empfehlen.
Die emotionale Kraft des Corps de ballet
Für viele Zuschauer:innen entfaltet das Corps gerade dann seine größte Wirkung, wenn es die Bühne als ein einziger, atmender Organismus füllt. Die Gleichzeitigkeit, Disziplin und die Verbundenheit in der Bewegung wecken Gefühle von Ehrfurcht, Staunen und Mitgefühl. Das kollektive Atmen, die präzise Kontrolle und die Hingabe der Gruppe sind unmittelbar spürbar – und machen die Magie des Balletts aus.
Das Corps de ballet im 21. Jahrhundert
Die Rolle des Corps de ballet hat sich weiterentwickelt. Moderne Kompanien experimentieren oft mit neuen Formen und Aufstellungen. Dennoch bleibt das Prinzip erhalten: Das Zusammenspiel vieler verleiht der Kunstform ihre Kraft. Viele Kompanien würdigen heute explizit den Beitrag und die Leistung des Corps mit eigenen Auszeichnungen und besonderen Inszenierungen.
Das Corps de ballet ist weit mehr als nur „Hintergrund“ für Hauptrollen – es schafft die Seele, den Rhythmus und das emotionale Fundament der Aufführung. Ohne es wäre kein Klassiker vorstellbar. Die intensive Arbeit, die Synchronizität und das kollektive Atmen machen aus einer Gruppe Individuen eine lebendige Skulptur aus Bewegung, Emotion und Harmonie. Das Corps de ballet ist der Inbegriff von Teamgeist und künstlerischer Integrität im klassischen Ballett – und ein kraftvolles Symbol für die Magie des Zusammenwirkens.
Quellen
- Corps de ballet – Wikipedia
- Ballet Dancer Hierarchy (PDF)
- The Role of Corps de Ballet
- American Ballet Theatre’s Corps de Ballet
- Understanding Ballet Hierarchy – The Australian Ballet
- Careers in Ballet: The Lewis Foundation
- Why I admire the corps de ballet…
- From corps de ballet to principal – Isabella Gasparini
- EBSCO Research Starter – Classical Ballet
- History of Ballet – Nutcracker
- History of ballet – Wikipedia
- Life in the Corps de Ballet – Vancouver Ballet Society