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Der Turner-Preis: Englands wichtigster (und umstrittenster) Kunstpreis

Anthea Hamiltons „Project for Door (After Gaetano Pesce)“, Teil ihrer Ausstellung „Anthea Hamilton: Lichen! Libido! Chastity!“. Kyle Knodell

Der Turner-Preis gilt als einer der bedeutendsten und zugleich umstrittensten Kunstpreise Großbritanniens. Seit seiner Gründung im Jahr 1984 hat er sich zu einer Ikone der zeitgenössischen Kunst entwickelt und prägt das Bild moderner britischer Kunst maßgeblich mit. Namensgeber ist der berühmte englische Romantiker J.M.W. Turner, dessen innovative Malerei im 19. Jahrhundert bereits damals kontrovers diskutiert wurde. Heute steht der Turner-Preis für künstlerische Innovation, Experimente und oftmals für provokative Kunst, die immer wieder öffentliche Debatten entfacht.

Geschichte und Entstehung des Turner-Preises

Der Turner-Preis wurde von den Patrons of New Art initiiert, einem Zusammenschluss von Förderern der Tate Gallery, unter der Leitung des damaligen Direktors Alan Bowness. Ziel war es, das Interesse an zeitgenössischer Kunst zu fördern und die Tate Gallery zu einem moderneren, internationalen Kunstzentrum weiterzuentwickeln. Inspiriert durch den literarischen Booker Prize sollte der Turner-Preis eine vergleichbare Auszeichnung im Bereich der bildenden Kunst werden.

Der erste Preis wurde 1984 vergeben und ging an den Photorealisten Malcolm Morley, dessen Sieg allerdings kontrovers diskutiert wurde, da er zu diesem Zeitpunkt überwiegend in den USA lebte. Seitdem hat der Preis jährlich Künstler ausgezeichnet, die durch ihre Arbeiten neue Wege in der Kunst beschritten haben. Berühmte Künstler wie Gilbert & George, Grayson Perry oder Damien Hirst haben den Preis gewonnen und ihre Karriere nachhaltig geprägt.

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Zielsetzung und Bedeutung

Der Turner-Preis zeichnet britische Künstler aus, die im vergangenen Jahr mit herausragenden Ausstellungen oder Präsentationen auf sich aufmerksam gemacht haben. Dazu zählen nicht nur reine Malerei oder Skulptur, sondern eine Vielzahl von Medien, darunter Installationen, Videokunst, Performance oder multimediale Arbeiten.

Der Preis zielt darauf ab, kulturellen Diskurs anzuregen, Innovationen zu fördern und die Grenzen traditioneller Kunstformen zu erweitern. Mit 25.000 Pfund Preisgeld für den Gewinner und einer Anerkennung für die Nominierten hat er für viele Künstler eine Sprungbrettfunktion auf dem internationalen Kunstmarkt.

Auswahlverfahren und Jury

Die Auswahl erfolgt jährlich durch eine unabhängige Jury, die von der Tate Gallery berufen wird. Das Gremium besteht aus Kunstkritikern, Kuratoren, Künstlern und Fachleuten aus dem In- und Ausland. Die Jury besucht Ausstellungen, diskutiert und nominiert vier bis fünf Künstler für die Shortlist.

Die nominierten Künstler stellen ihre Werke in einer begleitenden Ausstellung bei Tate oder wechselnden Ausstellungsorten aus, woraufhin die Jury den Gewinner bekannt gibt. Von 1991 bis 2017 galt eine Altersbeschränkung unter 50 Jahren für die Künstler, die mittlerweile abgeschafft wurde, um auch ältere Künstler anzuerkennen. Die Kriterien basieren auf Innovationskraft, Originalität und dem Beitrag zur zeitgenössischen Kunstszene.

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Kontroversen und Kritische Debatten

Der Turner-Preis ist nicht nur für seine künstlerischen Leistungen bekannt, sondern auch für die unzähligen Kontroversen, die ihn begleiten. Schon früh wurde die Auszeichnung als „kalter, mechanischer Konzeptquatsch“ kritisiert – ein Urteil des damaligen Kulturministers Kim Howells, das von Prinz Charles unterstützt wurde. Manche Kritiker werfen dem Preis vor, er fokussiere sich zu sehr auf provokative, konzeptuelle Kunst und vernachlässige traditionelle handwerkliche Fähigkeiten und Schönheit.

Viele preisgekrönte Werke sorgten für öffentliche Empörung. Berühmte Beispiele sind Damien Hirsts „Mother and Child, Divided“ (1995), eine in Formaldehyd konservierte Kuh und ihr Kalb, oder Tracey Emins „My Bed“ (1999), eine private, chaotische Installation, die heftige Debatten über die Definition von Kunst anstieß. Auch 2001 sorgte Martin Creeds Arbeit „Work No. 227: The Lights Going On And Off“ für Proteste, als eine Lichterinstallation mit dem Preis ausgezeichnet wurde.

Die mediale Aufmerksamkeit, die der Turner-Preis durch solche Diskussionen erfährt, führt zu einer gesteigerten öffentlichen Wahrnehmung zeitgenössischer Kunst, obwohl die Meinungen oft stark auseinandergehen. Kritiker wie auch Unterstützer sehen den Preis als Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen.

Künstlerische Innovationen und Einfluss

Der Turner-Preis hat nicht zuletzt deshalb einen so großen Stellenwert, weil er oft Künstler ehrt, die mit ihren Arbeiten neue Kunsträume erschließen. Viele Gewinner haben sich mit Konzeptkunst, performativen, multimedialen oder interdisziplinären Formen einen Namen gemacht, die weit über die britische Kunstszene hinausstrahlen.

Die Auszeichnung fungiert als Karrieresprungbrett und stärkt das öffentliche Interesse an zeitgenössischer Kunst. Viele Preisträger und Nominierten werden im Anschluss international anerkannt, einige konnten bedeutende Einzelausstellungen in renommierten Häusern realisieren oder sind in wichtigen Sammlung präsent.

Wandel und Gegenwart

Seit 2011 findet die begleitende Ausstellung nicht mehr ausschließlich im Tate Britain in London statt, sondern wandert zu Orten wie dem BALTIC Centre for Contemporary Art in Gateshead oder Tramway in Glasgow. Dies öffnet den Preis geografisch und spricht ein breiteres Publikum an.

Die Aufhebung der Altersgrenze 2017 signalisiert eine Offenheit gegenüber Künstlern, die ihren Durchbruch auch im späteren Lebensalter erreichen können, und spiegelt die Veränderung der Kunstwelt wider, die pluralistischer und inklusiver geworden ist.

Der Turner-Preis bleibt auch 2025 eine der einflussreichsten Stimmen in der britischen und internationalen Kunstlandschaft und zieht weiterhin Aufmerksamkeit auf sich – sei es durch innovative künstlerische Beiträge oder kontroverse Diskussionen.

Der Turner-Preis ist mehr als nur eine Auszeichnung; er ist eine Institution, die die Entwicklung der zeitgenössischen britischen Kunst seit Jahrzehnten maßgeblich prägt. Seine Kombination aus Förderung von Innovation, öffentlicher Debatte und medienwirksamen Kontroversen macht ihn einzigartig. Trotz oder gerade wegen seiner umstrittenen Natur hat er sich zu einem zentralen Schauplatz künstlerischer Auseinandersetzungen entwickelt, der weit über England hinaus Wirkung zeigt.

Quellen

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