Website-Icon Kunst 101

Contact Improvisation: Ein Tanz ohne festgelegte Schritte und Führung

Koyaanisqatsi12, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Contact Improvisation (CI) ist eine Tanzform, die die Grenzen traditioneller Tanzpraktiken sprengt. Ohne festgelegte Schritte, ohne vorgegebene Choreografien und ohne klare Führungsrollen lädt sie Tänzerinnen dazu ein, sich auf eine intuitive, spontane und körperlich verbundene Weise zu bewegen. Entwickelt in den frühen 1970er Jahren in den USA, hat sich diese postmoderne Tanzpraxis weltweit verbreitet und eine lebendige Gemeinschaft von Tänzerinnen inspiriert, die Bewegung, Berührung und Achtsamkeit auf einzigartige Weise erforschen. In diesem Artikel tauchen wir tief in die Welt der Contact Improvisation ein, beleuchten ihre Geschichte, Prinzipien, Techniken und ihre Bedeutung für Tänzerinnen und Nicht-Tänzerinnen gleichermaßen.

Flamenco: Der Ausdruck von Schmerz, Liebe und Stolz in Andalusien

Die Entstehung der Contact Improvisation

Ursprünge in den 1970er Jahren

Contact Improvisation wurde 1972 von dem amerikanischen Tänzer und Choreografen Steve Paxton ins Leben gerufen. Paxton, ein ehemaliges Mitglied des Merce Cunningham Dance Ensembles und des avantgardistischen Grand Union Improvisations Collective, war auf der Suche nach neuen Wegen, Bewegung zu erforschen. Inspiriert von Bewegungsformen wie Aikido, modernem Tanz und somatischen Praktiken, entwickelte er eine Tanzform, die auf physischem Kontakt und spontaner Interaktion basiert.

Die erste Performance, die den Namen „Contact Improvisations“ trug, fand im Januar 1972 während einer Residenz am Oberlin College statt und wurde später in der John Weber Gallery in Manhattan präsentiert. Diese Veranstaltung, die über fünf Tage hinweg stattfand, war keine traditionelle Aufführung, sondern eine offene Praxis, bei der die Tänzerinnen kontinuierlich Bewegungen erforschten, während Zuschauerinnen frei kommen und gehen konnten. Diese Veranstaltung markierte den Beginn einer Bewegung, die die Tanzwelt nachhaltig verändern sollte.

Einflüsse und Inspirationen

Die Wurzeln von Contact Improvisation liegen in einer Vielzahl von Disziplinen. Neben modernem Tanz und Aikido flossen Einflüsse aus der Gymnastik, den Newtonschen Bewegungsgesetzen und sogar aus spielerischen Beobachtungen kindlicher Bewegung in die Entwicklung ein. Paxton und seine Kolleg*innen, darunter Nancy Stark Smith, Lisa Nelson und Daniel Lepkoff, waren fasziniert von der Idee, den Körper als ein System zu betrachten, das durch physikalische Prinzipien wie Schwerkraft, Momentum und Reibung gesteuert wird. Diese Prinzipien wurden zur Grundlage für eine Tanzform, die auf Zusammenarbeit und intuitivem Verständnis basiert, anstatt auf vorgegebenen Regeln oder Hierarchien.

Die Prinzipien der Contact Improvisation

Bewegung durch Berührung

Das Herzstück der Contact Improvisation ist der „rollende Kontaktpunkt“ – ein dynamischer Punkt physischer Berührung zwischen zwei oder mehr Tänzerinnen, der als Ausgangspunkt für die Bewegung dient. Dieser Kontaktpunkt kann sich ständig verlagern, sei es durch sanftes Gleiten, Rollen oder das Abgeben und Annehmen von Gewicht. Die Tänzerinnen reagieren auf die Bewegungen des anderen, indem sie Gewicht, Momentum und Energie teilen, was zu einem fließenden, oft überraschenden Tanz führt.

Im Gegensatz zu traditionellen Paartänzen, bei denen eine Person führt und die andere folgt, gibt es in der Contact Improvisation keine festgelegten Rollen. Stattdessen entsteht ein Dialog, bei dem beide Tänzer*innen gleichermaßen aktiv sind. Diese Abwesenheit von Führung erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit und Vertrauen, da die Bewegungen nicht vorhersehbar sind und sich aus dem Moment heraus entwickeln.

Der Flow-Zustand

Ein zentrales Element der Contact Improvisation ist das Streben nach einem Zustand des „Flow“. Dieser Begriff, der aus der Psychologie stammt, beschreibt einen Zustand völliger Vertiefung, in dem Zeit und Raum zu verschwinden scheinen und die Tänzerinnen vollständig im Moment aufgehen. Studien aus dem Jahr 2006 haben gezeigt, dass Contact Improvisation ein intensives Flow-Erlebnis fördern kann, da die Tänzerinnen ihre Aufmerksamkeit vollständig auf den Körper und die Interaktion mit ihrem Partner richten.

Dieser Zustand wird durch die Abwesenheit von festgelegten Schritten verstärkt. Ohne Choreografie, die eingehalten werden muss, können Tänzer innen ihre Bewegungen frei ausdrücken und auf die Impulse des Moments reagieren. Der Flow entsteht, wenn der Körper und der Geist in Harmonie arbeiten, was Contact Improvisation zu einer meditativen und befreienden Praxis macht.

Achtsamkeit und Körperbewusstsein

Contact Improvisation fordert von den Tänzerinnen ein tiefes Bewusstsein für ihren eigenen Körper und den ihres Partners. Dieses Bewusstsein umfasst nicht nur die physischen Aspekte wie Balance und Gewichtsverlagerung, sondern auch die emotionale und energetische Ebene. Tänzerinnen lernen, auf subtile Signale wie Druck, Spannung oder Entspannung zu achten, um die Bewegungen ihres Partners zu verstehen und darauf zu reagieren.

Dieser Prozess des „Zuhörens“ mit dem Körper ist eine der größten Stärken der Contact Improvisation. Er fördert nicht nur die körperliche Intelligenz, sondern auch die Fähigkeit, im Moment präsent zu sein. Für viele Praktizierende ist dies ein Weg, sich selbst besser zu verstehen und eine tiefere Verbindung zu anderen Menschen aufzubauen.

Techniken und Praktiken

Grundlegende Bewegungsprinzipien

Obwohl Contact Improvisation keine festen Schritte vorschreibt, gibt es bestimmte Techniken und Prinzipien, die Tänzer*innen lernen können, um ihre Praxis zu vertiefen. Dazu gehören:

Diese Techniken werden oft in Workshops oder Jamsessions erlernt, bei denen erfahrene Tänzerinnen Anfängerinnen anleiten. Der Fokus liegt dabei nicht auf Perfektion, sondern auf der Entwicklung eines intuitiven Verständnisses für Bewegung und Kontakt.

Jams und Labs

Contact Improvisation wird häufig in sogenannten „Jams“ oder „Labs“ praktiziert. Eine Jam ist eine offene, spielerische Session, bei der Tänzerinnen frei improvisieren und mit verschiedenen Partnerinnen tanzen. Ein Lab hingegen ist forschender und konzentriert sich auf die Erkundung spezifischer Bewegungsprinzipien oder Konzepte.

Beide Formate bieten Raum für Kreativität und Experimentieren. Jams sind besonders für ihre niedrige Einstiegsschwelle bekannt, da sie keine formale Ausbildung erfordern. Jeder, der neugierig ist und sich bewegen möchte, kann teilnehmen, was Contact Improvisation zu einer zugänglichen und inklusiven Praxis macht.

Die soziale und kulturelle Bedeutung

Eine globale Gemeinschaft

Seit ihrer Entstehung hat sich Contact Improvisation zu einer globalen Bewegung entwickelt. Es gibt heute eine stark vernetzte internationale Gemeinschaft von Tänzer*innen, die sich in Workshops, Festivals und Jams treffen, um ihre Praxis zu teilen und weiterzuentwickeln. Publikationen wie das Contact Quarterly, ein Magazin, das 1975 von Nancy Stark Smith gegründet wurde, spielen eine zentrale Rolle bei der Dokumentation und Reflexion der Praxis.

Die inklusive Natur von Contact Improvisation hat dazu geführt, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen – von professionellen Tänzerinnen bis hin zu Hobbytänzerinnen – Teil der Gemeinschaft sind. Diese Vielfalt spiegelt sich in der Offenheit der Praxis wider, die keine bestimmten körperlichen Fähigkeiten oder Vorkenntnisse voraussetzt.

Gesellschaftliche Relevanz

Contact Improvisation ist nicht nur eine Tanzform, sondern auch ein soziales Phänomen. Sie fordert traditionelle Vorstellungen von Tanz, Körperkontakt und Beziehung heraus. In einer Welt, in der physische Nähe oft mit Misstrauen oder Unsicherheit begegnet wird, bietet CI einen Raum, in dem Menschen lernen können, sich auf eine respektvolle und achtsame Weise zu berühren und miteinander zu interagieren.

Die Praxis wirft auch Fragen nach Sicherheit, Einvernehmlichkeit und Machtdynamiken auf. In den letzten Jahren hat die Community begonnen, diese Themen intensiver zu diskutieren, insbesondere im Kontext von #MeToo und anderen Bewegungen, die auf Missstände in zwischenmenschlichen Beziehungen hinweisen. Die „erste Regel“ von CI – „Du bist für dich selbst verantwortlich“ – wurde kritisch hinterfragt, da sie in manchen Fällen zu unklaren Grenzen führen kann. Diese Diskussionen haben die Praxis weiterentwickelt und zu einem stärkeren Fokus auf Konsens und Kommunikation geführt.

Contact Improvisation in der Praxis

Vorteile für Körper und Geist

Die Praxis von Contact Improvisation bietet zahlreiche Vorteile, sowohl körperlich als auch mental. Auf körperlicher Ebene verbessert sie die Koordination, Balance und Flexibilität. Durch das Spiel mit Gewicht und Schwerkraft stärkt sie die Muskulatur und fördert ein tieferes Verständnis für die eigene Körpermechanik.

Mental und emotional bietet CI eine Möglichkeit, Stress abzubauen und Achtsamkeit zu fördern. Die intensive Konzentration auf den Moment und die Verbindung mit einem Partner kann beruhigend wirken und das Gefühl von Präsenz stärken. Viele Tänzer*innen berichten, dass sie durch CI ein gesteigertes Selbstbewusstsein und ein besseres Verständnis für zwischenmenschliche Dynamiken entwickeln.

Zugang für Anfänger*innen

Einer der größten Reize von Contact Improvisation ist ihre Zugänglichkeit. Da keine Vorkenntnisse erforderlich sind, können Menschen jeden Alters und jeder Fitnessstufe teilnehmen. Workshops für Anfänger*innen bieten oft eine sanfte Einführung in die Grundprinzipien, während Jams eine lockere Atmosphäre schaffen, in der Neulinge experimentieren können.

Ein typischer Einstieg könnte Übungen wie das bewusste Gehen im Raum, das Spüren des Bodens oder einfache Partnerübungen umfassen, bei denen die Tänzer*innen lernen, ihr Gewicht zu teilen. Diese Übungen helfen, Vertrauen aufzubauen und die Angst vor dem Unbekannten zu überwinden.

Herausforderungen und Kritik

Die Herausforderung der Nähe

Für viele Menschen ist die physische Nähe, die in der Contact Improvisation gefordert wird, eine Herausforderung. In einer Gesellschaft, in der Berührung oft mit Intimität oder Sexualität assoziiert wird, kann es ungewohnt oder sogar unangenehm sein, Fremden so nahe zu kommen. Die Praxis erfordert daher ein hohes Maß an Offenheit und Vertrauen, sowohl in sich selbst als auch in den Partner.

Sicherheit und Einvernehmlichkeit

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Frage der Sicherheit. Da Contact Improvisation oft dynamische Bewegungen wie Heben oder Fallen beinhaltet, besteht ein gewisses Verletzungsrisiko, insbesondere für Anfänger*innen. Workshops und Jams legen daher großen Wert auf die Vermittlung sicherer Techniken und die Förderung eines achtsamen Umgangs miteinander.

Die Diskussion über Einvernehmlichkeit hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Um sicherzustellen, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen, wird in vielen CI-Communities zunehmend auf klare Kommunikation und das Setzen von Grenzen geachtet.

Die Zukunft der Contact Improvisation

Contact Improvisation bleibt eine lebendige und sich ständig weiterentwickelnde Praxis. Mit der zunehmenden Digitalisierung und der Verbreitung von Online-Plattformen haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, die Praxis zu teilen und zu dokumentieren. Gleichzeitig bleibt die physische Natur des Tanzes ein zentraler Aspekt, der die Bedeutung von persönlicher Begegnung und Berührung unterstreicht.

Die Integration von CI in andere Disziplinen wie Theater, Therapie und Bildung zeigt ihr Potenzial, über den Tanz hinaus zu wirken. Als Werkzeug zur Förderung von Empathie, Zusammenarbeit und Kreativität könnte Contact Improvisation in den kommenden Jahren eine noch größere Rolle in der Gesellschaft spielen.

Contact Improvisation ist eine einzigartige Tanzform, die die Kraft der spontanen Bewegung und der menschlichen Verbindung feiert. Ohne festgelegte Schritte oder Führungsrollen bietet sie einen Raum für Kreativität, Achtsamkeit und Entdeckung. Ob als künstlerische Praxis, soziale Interaktion oder persönliche Reise – CI hat das Potenzial, Menschen auf tiefgreifende Weise zu berühren und zu verbinden.

Für diejenigen, die bereit sind, sich auf das Unbekannte einzulassen, ist Contact Improvisation eine Einladung, den Moment zu umarmen, Vertrauen aufzubauen und die Schönheit der gemeinsamen Bewegung zu erleben. In einer Welt, die oft von Strukturen und Erwartungen geprägt ist, erinnert uns CI daran, wie befreiend es sein kann, einfach zu sein, zu spüren und sich zu bewegen.

Die mobile Version verlassen