Alles, Was Sie Über Butoh-Tanz Wissen Müssen

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Butoh-Tanz, auch bekannt als „Tanz der Finsternis“ (Ankoku Butō), ist eine der rätselhaftesten und provokativsten Kunstformen des 20. Jahrhunderts. Entstanden im Nachkriegsjapan, bricht Butoh radikal mit konventionellen Ästhetiken und lädt dazu ein, die dunklen, unerforschten Facetten der menschlichen Existenz zu erkunden. Mit seiner einzigartigen Mischung aus surrealen Bewegungen, weißer Körperbemalung und existenziellen Themen hat Butoh weltweit Künstler*innen und Publikum gleichermaßen fasziniert.

In diesem Artikel tauchen wir tief in die Geschichte, Philosophie, Techniken und die globale Bedeutung des Butoh-Tanzes ein – eine Kunstform, die bis heute Grenzen sprengt und Fragen stellt.


1. Die Entstehung des Butoh: Ein Tanz der Rebellion

Historischer Kontext

Butoh entstand in den späten 1950er-Jahren als Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie die zunehmende Amerikanisierung Japans. Künstler*innen wie Tatsumi Hijikata (1928–1986) und Kazuo Ohno (1906–2010) suchten nach einer neuen künstlerischen Sprache, die weder westliche Tanzformen kopierte noch in traditionellen japanischen Stilen wie Nihon Buyō verharrte.

Kinjiki: Der Skandal als Geburtsstunde

Das erste Butoh-Stück, Kinjiki („Verbotene Farben“, 1959), basierte auf Yukio Mishimas Roman und thematisierte Homosexualität und Tod. Die Aufführung endete im Chaos: Hijikata jagte Yoshito Ohno (Kazuo Ohnos Sohn) mit einem lebenden Huhn von der Bühne, was zu einem Festivalausschluss führte. Dieser Tabubruch markierte den Beginn einer radikalen künstlerischen Bewegung.

Einfluss deutscher Expressionisten

Butoh wurde stark vom deutschen Ausdruckstanz der 1920er-Jahre inspiriert, insbesondere von Mary Wigman und Rudolf von Laban. Japanische Tänzer*innen wie Eguchi Takaya brachten diese Techniken nach Japan, wo sie von Hijikata und Ohno aufgegriffen und transformiert wurden.


2. Die Pioniere: Hijikata, Ohno und die Philosophie des Butoh

Tatsumi Hijikata: Der Architekt der Dunkelheit

Hijikata, oft als „Vater des Butoh“ bezeichnet, entwickelte den Ankoku Butō (Tanz der Finsternis). Seine Choreografien erforschten Tabuthemen wie Gewalt, sexuelle Perversion und das Groteske. Für ihn war der Körper ein „Leichnam, der verzweifelt am Leben festhält“ – ein Medium, um soziale Normen zu zerstören.

Kazuo Ohno: Die Seele des Butoh

Ohno, ein ehemaliger Sportlehrer, brachte Spiritualität und Poesie in den Butoh. Sein Stil war träumerisch und transformativ, inspiriert von Themen wie Wiedergeburt und Erinnerung. Berühmt wurde er mit Admiring La Argentina (1977), einer Hommage an die spanische Tänzerin Antonia Mercé.

Zwei Seiten einer Medaille

Während Hijikata den Fokus auf physische Form und Rebellion legte („Form kommt zuerst, die Seele folgt“), betonte Ohno das Spirituelle („Die Seele führt, die Form folgt“). Beide Ansätze ergänzten sich und schufen ein vielschichtiges künstlerisches Erbe.


3. Stilmerkmale: Wie sieht Butoh aus?

Butoh entzieht sich klaren Definitionen, doch einige Kernelemente prägen seine Ästhetik:

  1. Weiße Körperbemalung: Symbolisiert die Entindividualisierung und Verbindung zum Tod.
  2. Extrem langsame Bewegungen: Jede Geste wird hyperkontrolliert, um innere Konflikte sichtbar zu machen.
  3. Groteske und Surrealismus: Verrenkungen, Grimassen und absurde Posen brechen mit Schönheitsidealen.
  4. Improvisation und Kollektivität: Butoh lebt vom spontanen Ausdruck, oft ohne feste Choreografie.
  5. Themen: Tod, Vergänglichkeit, Identitätsverlust und die Rückkehr zu archaischen Ursprüngen.

4. Philosophie: Der Körper als Landschaft der Seele

Butoh ist mehr als Tanz – es ist eine existenzielle Praxis. Hijikata sah den Körper als „Fleischmasse“ (nikutai), in der sich unterdrückte Erinnerungen und Triebe manifestieren. Durch Butoh wird der Körper zum Medium, um:

  • Das Unbewusste zu erforschen: Träume, Ängste und kollektive Traumata werden sichtbar.
  • Dualismen aufzulösen: Schönheit vs. Hässlichkeit, Leben vs. Tod verlieren ihre Trennlinien.
  • Kulturelle Identität zu hinterfragen: Butoh reflektiert Japans Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne.

„Butoh ist kein Tanz, den man zeigt – man lässt ihn geschehen.“ – Kazuo Ohno.


5. Butoh heute: Globale Einflüsse und moderne Interpretationen

Internationale Verbreitung

In den 1980ern eroberte Butoh Europa und die USA. Gruppen wie Sankai Juku (gegründet von Ushio Amagatsu) begeisterten mit spektakulären Aufführungen, etwa an Gebäudefassaden hängend. Tragisch wurde ihr Debüt in Seattle 1985, als ein Tänzer tödlich abstürzte – ein Ereignis, das Butoh schlagartig bekannt machte.

Fusion mit anderen Kunstformen

Moderne Butoh-Künstler*innen wie Min Tanaka oder Akaji Maro verbinden Butoh mit Theater, bildender Kunst und digitalen Medien. In Europa entstanden hybride Stile, z. B. „weißer Butoh“ (Masaki Iwana) oder Body Weather (Min Tanaka).

Butoh in Deutschland

Deutschland entwickelte sich zum Hotspot mit Gruppen wie tatoeba Danse Grotesque (gegründet 1987) und Festivals wie dem Butoh-Zentrum MAMU in Göttingen. Der Film Kirschblüten – Hanami (2008) brachte Butoh sogar ins Kino.


6. Butoh lernen: Techniken und Übungen

Butoh ist für alle zugänglich – unabhängig von Alter oder Vorkenntnissen. Typische Praktiken umfassen:

  • Slow Walk: Meditatives Gehen mit gebeugten Knien, um Erdung zu spüren.
  • Imaginationstraining: Visualisieren von Naturphänomenen (z. B. „Werden wie ein Baum“).
  • Shirome: Hochdrehen der Augen, um einen tranceartigen Zustand zu erreichen.
  • Körperliche Grenzerfahrungen: Schmerz, Erschöpfung oder Starre als Mittel zur Selbstbefreiung.

„Butoh ist eine Infektion, keine Tanzrichtung.“ – Henriette Heinrichs.


7. FAQs: Häufige Fragen zum Butoh-Tanz

  1. Was ist der Unterschied zwischen Butoh und Nihon Buyō?
    Nihon Buyō ist ein traditioneller japanischer Bühnentanz mit eleganten Kimonos und Fächern, während Butoh antiästhetisch und avantgardistisch ist.
  2. Kann man Butoh ohne Vorkenntnisse tanzen?
    Ja! Butoh legt Wert auf Authentizität, nicht auf Technik. Workshops richten sich oft an Laien.
  3. Warum tragen Butoh-Tänzer*innen weiße Farbe?
    Die weiße Bemalung symbolisiert Reinheit, Tod und die Auflösung des Egos.
  4. Ist Butoh politisch?
    Ursprünglich ja – als Protest gegen Amerikanisierung und Kommerzialisierung. Heute steht eher die individuelle Transformation im Fokus.

Butoh bleibt ein Spiegel unserer Zeit: eine Kunst, die sich ständig wandelt, aber immer die Essenz des Menschseins berührt. Ob in Tokio, Berlin oder New York – Butoh fordert uns auf, die Dunkelheit zu umarmen, um im Licht der Selbsterkenntnis zu erwachen.

„Butoh ist kein Tanz, den man versteht. Man erfährt ihn.“ – Tadashi Endo.

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